Diplomarbeit von Andrè Neubert, HTW-Dresden (FH), Fachbereich Bauingenieurwesen/Architektur, Studiengang Bauingenieurwesen 
 Thema: "Entwicklung einer Softwarekonzeption als Lehrhilfe für symbolische Darstellungen auf dem Gebiet der Festigkeitslehre"

Eindimensionale Bauteile

zzz
Sicherheiten
 

Beanspruchung und Beanspruchbarkeit

Als Folge der im Abschnitt 3 „Allgemeiner Überblick über die Festigkeitslehre" beschriebenen Sicherheitsrisiken, kann in einem Bemessungsquerschnitt eines Bauteils die auftretende Beanspruchung größer und die vorhandene Beanspruchbarkeit kleiner werden als in der statischen Berechnung angenommen wurde. Sind die Abweichungen von den Berechnungswerten so groß, daß die Beanspruchung größer als die Beanspruchbarkeit wird, versagt der Querschnitt. 
Für die weiteren Betrachtungen nimmt man die Wahrscheinlichkeitstheorie zu Hilfe: An die Stelle der genügend großen Sicherheit, daß die Beanspruchung S eines Querschnitts größer wird als seine Beanspruchbarkeit R, tritt die genügend kleine Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Ereignisses. Um diese Wahrscheinlichkeit berechnen zu können, werden für die Bemessungsquerschnitte der Bauwerke  Häufigkeitskurven benötigt, welche die in der Praxis auftretenden Streuungen von Beanspruchung und Beanspruchbarkeit angeben (Normalverteilung). Bei jeder der beiden Häufigkeitskurven steht ein Wert fest, welcher der weiteren Berechnung zugrundegelegt wird, und zwar bei der Häufigkeitskurve der Beanspruchungen die 98%-Fraktile S98% und bei der Häufigkeitskurve der Beanspruchbarkeiten die 5%-Fraktile R5%. Bei einer Vielzahl gleichartiger Bauwerke ist dann infolge der unvermeidlichen Sicherheitsrisiken in 98% der Bemessungsquerschnitte die wirklich vorhandene Beanspruchung S kleiner und die wirklich vorhandene Beanspruchbarkeit R größer als in der Berechnung angesetzt. 

Zwischen der Fraktile S98% und der Fraktile R5% muß ein Sicherheitsabstand liegen, da sich sonst die Häufigkeitskurven überlappen würden und bei einem Teil der Bemessungsquerschnitte die Beanspruchbarkeit kleiner wäre als die Beanspruchung. Die Größe dieses Sicherheitsabstandes wird mit Hilfe eines globalen Sicherheitsbeiwertes oder mehrerer Teilsicherheitsbeiwerte festgelegt. 
 
 
 
 

Weitere Einflüsse auf die Größe der Sicherheitsbeiwerte

Die Baustoffestigkeiten, die als charakteristische Widerstandsgrößen in die Berechnungen eingehen oder als Grundlage für die Festsetzung der zulässigen Spannungen dienen, werden an genormten Probekörpern in einem Kurzzeitversuch ermittelt. Diese Tatsache führt dazu, daß die Sicherheitsbeiwerte nicht nur die schon beschriebenen Risiken abdecken müssen, sondern auch Einflüsse, die mit der Ermittlung der Baustoffestigkeiten zusammenhängen. 

In diesem Zusammenhang ist an erster Stelle zu nennen, daß die Festigkeit der Probekörper nicht gleich der Festigkeit des Bauwerks ist. Differenzen zwischen den beiden Festigkeiten ergeben sich zunächst aus den unterschiedlichen Formen von Bauteilen und Probekörpern. So wird z.B. die Betondruckfestigkeit an Zylindern oder Würfeln ermittelt, aber in den Formen der Bauteile lassen sich eher schlanke Prismen als Zylinder oder Würfel erkennen. Zylinder-, Prismen- und Würfelfestigkeit haben aber unterschiedliche Größen, und Zylinder- und Prismenfestigkeit hängen von den Verhältnissen der Höhen und Durchmesser bzw. der Längen, Breiten und Höhen der Probekörper ab. Außerdem beeinflußt die absolute Größe der Probekörper deren Festigkeit. Unterschiede zwischen Probenfestigkeit und Bauteilfestigkeit können auch durch Streuungen der Baustoffestigkeit bedingt sein, wie sie bei gewachsenem Holz unvermeidlich sind oder im Betonbau durch ungleich sorgfältige Verdichtung von Probekörpern und Bauwerk entstehen können. 

Zweitens ist aufzuführen, daß die statische Festigkeit im Kurzzeitversuch ermittelt wird, da unsere Bauwerke Jahrzehnte überdauern sollen, kämen wir mit der Dauerstandfestigkeit als Ausgangswert der Wirklichkeit näher. Wir gehen trotzdem von der statischen Festigkeit aus, da sie wesentlich leichter zu ermitteln ist, und berücksichtigen den Unterschied zwischen ihr und der stets kleineren Dauerstandfestigkeit in der Größe des Sicherheitsbeiwertes oder durch Zusatzfaktoren a (EC 2, Stahlbeton) oder kmod (EC 5, Holzbau). 

Drittens berücksichtigen weder statische Festigkeit noch Dauerstandfestigkeit die Tatsache, daß viele Bauwerke durch ,,nicht vorwiegend ruhende Lasten" beansprucht werden. Auch das muß in den Sicherheitsbeiwert eingearbeitet werden, soweit nicht Schwingbeiwerte, Stoß- oder Ausgleichszahlen diese Aufgabe übernehmen (Nachweis der Betriebsfestigkeit). 

Viertens ist festzustellen, daß die Probekörper in den Prüfmaschinen auf eine klare, einfache Art und Weise belastet werden: Der stählerne Probestab wird in einer Richtung mittig gezogen, der Betonprobekörper in einer Richtung mittig gedrückt. Aus diesem Grunde tritt in beiden Probekörpern ein einachsiger Spannungszustand auf. Im Gegensatz dazu ergibt sich an vielen Stellen der Bauwerke für den Baustoff eine zusammengesetzte Beanspruchung: Normalspannungen wirken in zwei oder gar drei Richtungen. Außerdem treten Schubspannungen auf. Es stellt sich dann die Frage, wie groß unter diesen Umständen die Beanspruchbarkeit des Baustoffs ist. Versuche und Überlegungen haben dazu geführt, daß aus den Spannungen die an einem Element des zu bemessenden Baugliedes angreifen, eine Vergleichsspannung zu errechnen und diese einer zulässigen Spannung gegenüberzustellen ist (s. Abschnitt 4.6.8 Haupt- und Vergleichsspannungen/Spannungshypothesen [Applet3]). /6/
 
 

 

 © 2001 Andrè Neubert  -  Version 1.00 vom 30.06.2001